Hier die 'Farbencodes' und ihre Bedeutung bezogen auf die 5000 häufigsten Wörter (: Wortformen)
türkis: 1 – 1000 / grün: 1001 – 2000 / lila: 2001 – 3000 / rot: 3001 – 4000 / gelb: 4001 – 5000
Was ist Sprache? Man weiß es nicht. Das von Hadumod Bußmann 1983 erstellte Lexikon der Sprachwissenschaft verzeichnet unter dem Eintrag „Sprache“ einen Tatbestand, der entmutigend wirkt und eigentlich von jeder weiteren Befassung damit abhalten müsste: „In der Sprachwissenschaft wird die Vieldeutigkeit des Begriffs S. (zu verstehen als ,Sprache', ,Sprechen', ,Sprachfähigkeit', ,Einzelsprache') in Abhängigkeit vom jeweiligen Theorieverständnis und Erkenntnisinteresse durch Abstraktion und Abgrenzung von Teilaspekten terminologisch differenziert bzw. präzisiert.“ In Abhängigkeit vom jeweiligen Theorieverständnis - das setzt die Existenz von Theorien als etwas Selbstverständliches voraus, verkennt aber, dass alle, wirklich alle Theorien über die Sprache etwas Unzulängliches, Lückenhaftes, Schiefes oder sogar Unsinniges an sich haben.
Jeder, der sich zur (deutschen) Sprache äußert, wirft dabei mit Herder-, Grimm- und Humboldt-Zitaten nur so um sich, ohne deren oftmals so lächerlich apodiktischen Charakter zu befragen - die Pest geflügelter Worte, die sich im öffentlichen Bewusstsein festgesetzt haben. Und wenn man, mit Wilhelm vom Humboldt, noch so oft behauptet, dass der Mensch die Dinge nur so wahrnimmt, wie die Sprache ihm dies vorgibt - wahrer wird es dadurch nicht. Man weiß es einfach nicht: Liegt jeder Sprache wirklich eine spezifische Weise der Weltwahrnehmung zugrunde? Dazu wäre zu klären, ob Wahrnehmung grundsätzlich an Sprache gebunden ist. Sie kann sich, differenziert, nur sprachlich mitteilen; aber das, was der Mitteilung vorausgeht, ist womöglich gar nicht an Sprache gebunden.
NS-Zeit als Ursache für Sprachschlampereien?
Man sollte sich demütig in Strukturanalysen üben, die Respekt haben vor dem Rätsel „Sprache“, die eingestehen, dass Sprachwissenschaft über Deskription im Grunde nie richtig hinauskommt, und von Theorien, die der Sprache nur übergestülpt werden können, die Finger lassen. „In Abhängigkeit vom jeweiligen Theorieverständnis“ - das heißt am Ende auch nur: jeder, wie er will und meint. Sehr hintersinnig, die Frau Bußmann!
Mit solchen grundsätzlichen und vielleicht ein wenig spielverderberischen Überlegungen betritt man die sogenannte Tonschleuse, einen mit rotem Teppich ausgelegten Tunnel, in dem man einem Stimmengewirr aus bloßen Lauten, Wörtern, Phrasen und Sätzen aus dem Alt- bis Neuhochdeutschen ausgesetzt ist - ein quergelegter Babelturm, der das heillose Durcheinander veranschaulichen soll, das nicht nur zwischen Einzelsprachen herrscht, sondern, in geschichtlicher, diachroner Betrachtung, auch innerhalb des Deutschen? Willkommen jedenfalls in der Ausstellung „Die Sprache Deutsch“ des Deutschen Historischen Museums in Berlin.
Hören wir zunächst, was der Hausherr dazu mitzuteilen hat: „Untugenden der deutschen Sprache sind die häufigen Mehrfachbedeutungen, das Ungefähre des Satzbaus und das Regellose. Niemand herrscht über die Sprache. Gefährdet ist sie, weil wir sie als ,Nationalsprache' aufgegeben haben, aber noch nicht als verbindende Gemeinsprache verstehen. Nach den vom Nationalsozialismus bestimmten Gewaltexzessen und Ideologien sind Zweifel und Rücksichten aufgekommen, die dazu geführt haben, die deutsche Sprache gegenüber anderen Nationen zurückzunehmen und nur noch nachlässig untereinander zu gebrauchen.“ Regellos, ungefährer Satzbau, nachlässiger Gebrauch - Hans Ottomeyer, der Generaldirektor des Deutschen Historischen Museums, sollte nicht von sich auf andere schließen. Man möchte, wenn man sein befremdliches Vorwort gelesen hat, am liebsten gleich wieder kehrtmachen. Wäre nach Ottomeyers Logik womöglich der Holocaust die Ursache für Sprachschlampereien? Und läuft der Antrag der Unionsfraktion im Bundestag, das Deutsche in die Verfassung zu schreiben, dem Bestreben, die Nationalsprache aufzugeben, nicht vielmehr zuwider?
Sprachgeschichte - ein reines Konstrukt
Aber man möchte auch nicht wissen, was den Präsidenten des Goethe-Instituts im Vorwort geritten hat: „Man könnte die deutsche Sprache mit einer Fähre vergleichen, die als Teil des Flusses - des kulturellen Kontextes einer Sprachgemeinschaft - die Ufer verbindet.“ So allen Ernstes Klaus-Dieter Lehmann. Die beiden sind ja keine Sprachwissenschaftler, und man sieht, wie schwierig es selbst für gebildete Menschen ist, etwas Stichhaltiges zur Sprache zu sagen.
Nun ist es aber auch genug mit der Bedenkenträgerei. Springen wir mutig auf die Fähre, die ja nicht unbedingt die Herren Ottomeyer und Lehmann zu steuern brauchen, und vergessen wir für eine Weile die Tatsache, dass eine Ausstellung zur Sprache, auch zur geliebten deutschen, ein Ding der Unmöglichkeit ist oder jedenfalls ihr Ziel verfehlt, wenn dieses darin bestehen sollte, Sprache zu erklären. Man kann es, wir sagten es schon, eigentlich nicht. Man kann nur, immer wieder, staunen; staunen beispielsweise über die Originalhandschriften aus alt- und mittelhochdeutscher Zeit, die veranschaulichen, wie aus einer, sagen wir: Entität - denn Sprachgeschichte ist ja zu großen Teilen reines Konstrukt - namens „teut“ beziehungsweise „thiot“ etwas wurde, das „theodiscus“ hieß, dann „diutisk“, „teutsch“ und schließlich „deutsch“.
Die Sektion zur „Sprachgeschichte“ vermittelt einen nicht sehr ins Detail gehenden, aber ausreichenden Überblick über die Frühformen des Deutschen, die höfische Dichtung, die sogenannte Kanzleisprache, Luther und Gutenberg, das Barock und so weiter, bis hin zu den Normbestrebungen nach 1900. Ihr voran gehen die mit interessanten Modellen gespickten Erläuterungen zum Spracherwerb, bei denen gerade einmal der Name Noam Chomskys fällt und ansonsten deutlich wird, wie wenig man über diesen recht eigentlich wunderbaren Vorgang noch weiß. Ob die Hirnforschung daran je etwas ändern wird, steht dahin. Vielleicht ist es mit der Sprache wie mit der Liebe: Sie gehört zum Leben unbedingt dazu, aber begreifen tun wir sie nicht. Dafür müssten Neuro- und Sprachwissenschaft doch noch etwas enger zusammenrücken.
Wiedergekäutes zum Sprachengewirr
Es versteht sich, dass die Literatur hier den breitesten Raum beanspruchen muss, obwohl sie, als „Dichtkunst und Sprachkunst“, wie die dritte Abteilung überschrieben ist, ein absoluter Hybridfall von Sprache ist: im Grunde überflüssig, wenn wir die engere Funktionsweise der Sprache als Austausch von wesentlichen Gedanken, Empfindungen, von „Informationen“ im Auge behalten. Die vielen Exponate, die Manuskripte und vor allem die Tonkonserven mit den Autorenlesungen bis hin zu Daniel Kehlmann zeigen, was für ein „monstrum per excessum“, wie Schopenhauer sagen würde, der Mensch mit seiner Sprache doch ist. Der sinnlose Witz der Schwitterschen „Ursonate“, die - Obacht, Herr Ottomeyer! - scheinbare Schnoddrigkeit, frech am Mündlichen orientierte „Nachlässigkeit“ eines Arno Schmidt und die Unerbittlichkeit, aber, was den Begriff einer Nationalsprache betrifft, tiefe Ambivalenz Adornos nötigen aufs Neue Bewunderung ab für wahrhaft schöpferische Leistungen, die man für den Inbegriff des Menschlichen zu halten geneigt ist, mit denen aber nur wenige etwas anfangen können.
Solche Paradoxa, die zum Wesen von Sprache und Literatur gehören, muss sich der Besucher erschließen. Sie drohen unterzugehen neben den eher holzschnitthaft angelegten Sektionen „Sprache und Technik“ und „Lebendige Sprache“. Hier stößt man auf bis zum Überdruss Wiedergekäutes zum Sprachengewirr in der EU und den Ladenhüter „Anglizismen“, die hier, wie leider oft, nicht von einfachen englischen Ausdrücken unterschieden werden.
Heidemarie Anderlik, die Kuratorin der Ausstellung, formuliert deren Anspruch unzutreffend: „Ausgangspunkt der Präsentation ist nicht die philosophische Überlegung, welche Bedeutung die Sprache für den Menschen hat, sondern eine Informationseinheit zu statistisch und wissenschaftlich belegbaren Fakten.“ Darauf, auf die „Bedeutung“ der Sprache für den Menschen, läuft das Gezeigte aber hinaus. Dahinter verbirgt sich ein geläufiges, aber eklatantes Missverständnis, das die Kuratorin unfreiwillig preisgibt: „Die stete Vernetzung von Sprache und Politik, Sprache und Gesellschaft, Sprache und Technik, Sprache und Literatur, Sprache und Kunst, Sprache und Wissenschaft erzeugt jedoch schnell ein faszinierendes Ganzes und lässt schnell Neues entdecken.“ Das hieße ja, dass Sprache der eine Bereich ist und Politik, Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft der jeweils andere. Hier gibt es aber nichts zu „vernetzen“. Politik und Kultur gibt es nur, weil es Sprache gibt; sie sind davon durchsetzt. Man ist eben manchmal sprachlos, sobald die Sprache zur Sprache kommt.
Die Sprache Deutsch. Deutsches Historisches Museum Berlin, bis zum 3. Mai. Das von Heidemarie Anderlik und Katja Kaiser im Sandstein Verlag, Dresden, erschienene Begleitbuch umfasst 384 Seiten und kostet 25 Euro.
[Frankfurter Allgemeine Zeitung / FAZ.NET - 19. Januar 2009]