Schmitz, Ulrich (2001)
Optische Labyrinthe im digitalen Journalismus

INHALT

 

1. Online - mehr oder weniger Zeitung?

2. Textkohärenz und Flächendesign

2.1 Innere Gliederung und äußere Gestalt

2.2 Der Bildschirm als Textschirm

2.3 Orientierung in hypermedialen Zeichenmengen

2.4 Hypermedia-Dokumente als Magazine für Sinnkonstruktion

3. Bilder bei Texten, Texte bei Bildern

3.1 Vier Aufgaben von Bildern in Online-Zeitungen

3.2 Vier Arten von Text-Bild-Beziehungen

4. Besseres Design für Online-Zeitungen

 


 

2. Textkohärenz und Flächendesign

 

GM - 2.1 Innere Gliederung und äußere Gestalt

 

[...]

Der klassische Textbegriff orientiert sich stark an der Vorstellung innerer (thematischer) und äußerer (formaler) Ganzheit. [...]

NB.: Bei linguistischer Terminologie leistet 'gute Dienste' ein Lexikon der Linguistik (: 3500 DIN-A-4 Seiten), das sich seit längerer Zeit auf einem Server namens Culturitalia befindet. Besagter Server wird von mir und von zwei befreundeten Kollegen betrieben und bietet allerlei Materialien für Hispanisten und Italianisten, http://culturitalia.uibk.ac.at

Wegen der (zahlreichen) linguistischen Definitionen von Text, S.

http://culturitalia.uibk.ac.at/hispanoteca/Lexikon%20der%20Linguistik/t/TEXT%20%20%20Deutsche%20Zitate.htm

 

Für van Dijk (1980:41) etwa werden Satzsequenzen durch einen einheitlichen (makrostrukturellen) semantischen Zusammenhang zu Texten. De Beaugrande/Dressler (1981) zufolge muß eine "kommunikative Okkurenz" sieben Textualitätskriterien erfüllen, um als Text (im Gegensatz zu einem Nicht-Text) gelten zu können (ebd. 3 et passim). [...] Je mehr das gesamte gleichzeitig zugängliche Informationsangebot den Umfang eines einzelnen Textes übersteigt, desto weniger kann die Gliederung des Ganzen (dispositio) innerhalb der sprachlichen Ausarbeitung (elocutio) eines einzelnen Textes dargelegt werden. [...]

Die gegenüber der Papierfläche komplexere Orientierung im virtuellen Raum geht einher mit komplexeren Gestaltungsmöglichkeiten auch innerhalb der angebotenen Zeichen. Teile von Texten können auch Texte sein (wie Moosteppiche oder Gemeinschaften) - bis hinunter zu einer intuitiv ad hoc zu beurteilenden kleinsten Größe. So gesehen sind herkömmlich lineare Texte eine Teilmenge von Hyper(media)texten, die nicht alle deren Möglichkeiten ausnutzen. (So wie natürliche Zahlen eine Teilmenge aller Zahlen sind: nur derjenige, der allein natürliche Zahlen gewohnt ist, fragt sich angesichts z.B. irrationaler Zahlen, inwiefern das denn noch Zahlen sein sollen.)

 

GM - 2.2 Der Bildschirm als Textschirm

 

[...]

Der Bildschirm wird als Textschirm benutzt. Möglichst viel Text wird in möglichst kleinen Portionen feilgeboten und mit grafischen Elementen und Bildern zu einem Plakat komponiert. Lineare Texte, Textdesign-Strategien und nichtsprachliche (visuelle) Zeichen füllen eine Fläche, auf der sich zunächst nichts bewegt. Dazu zählen vor allem (in unserem Beispiel gut sichtbar) Clustering auf der Seite der inneren Textform und Flächengestaltung auf der Seite des visuellen Designs. Auf äußeres Erscheinungsbild, Layout, komplexe Text-Bild-Gestaltung und Textdesign wird umso mehr Wert gelegt, je differenzierter der Pressemarkt und je heterogener das Angebot innerhalb eines Erzeugnisses ist. Weisen die eingehenden Informationen "einen geringeren Kohärenzgrad auf, so steigen [...] die Integrationsanforderungen an den Leser. Andererseits besitzt er mehr Freiheitsgrade, die Information zu ordnen und sie seinen spezifischen Interessen anzupassen." (Weingarten 1997:216)

 

GM - 2.3 Orientierung in hypermedialen Zeichenmengen

 

Während das Ganze einer Papierzeitung materiell übersichtlich vor Augen liegt [?!] und einzelne Informationen daraus handgreiflich und schnell aufgefunden werden können, sind Grenzen und Struktur des Gesamtangebotes von Online-Zeitungen kaum oder nur vergleichsweise schwer zu übersehen, und einzelne Informationen daraus müssen mit oft noch ungewohnten Techniken angesteuert werden*. Orientierung und Kohärenz sind in Online-Zeitungen deshalb noch schwerer zu erreichen als in Papierzeitungen. Wohl alle Online-Zeitungen haben dieses Problem bisher erst unzureichend gelöst. Auf der einen Seite stehen in sich geschlossene geschriebene Texte, auf der anderen Seite ikonische Bilder (z.B. Fotos). [...]

Online-Zeitungen sind eines der Versuchslabore für neuartige Textgestaltung. In der Reihenfolge historischen Auftretens und zugleich abnehmender Wichtigkeit sind das (objektive) Aktualität, (subjektiver) Neuigkeitswert, Informationsgehalt, Unterhaltungswert, Angebots- und Textsortenvielfalt sowie Text-Bild-Mischung. [...]

*: Erschwert wird das Ganze dadurch, daß nur ca. 1/3 der Online Ztg./Ztschr. SITEMAPS anbietet, so in etwa Die Presse, Le Monde, NZZ, Spiegel, Times (ab und zu 'funktioniert' es aber nicht).

 

Der klassische Zeitungsleser

(1) hält eine Menge von Papierseiten

(2) mit (je nachProdukt) standardisiertem Hoch- und Großformat in der Hand

(3) und blättert sie mit Armen und Händen durch;

(4) sie sind bereits fertig und unveränderlich bedruckt.

(5) Er oder sie kann jede einzelne oder auch je zwei dieser Seiten komplett im Auge halten und wird sich auf dieser Fläche orientieren,

(6) um fest gedruckten, fein verteilten Farbpigmenten (größerenteils nur schwarz-weiß)

(7) Sachinformationen zu entnehmen.

 

Der Online-Zeitungsleser hingegen

(1) sitzt (heute) vor einem einzigen flachen Bildschirm

(2) beliebiger, aber meist viel geringerer Größe im Querformat,

(3) den er durch milli- oder zentimeterweite Handbewegungen und jeweils einen leichten Fingerdruck auf die Maustaste

(4) mit fortwährend verschiedenen Inhalten füllen kann.

(5) Sie oder er hat nur die auf einer Bildschirmseite ausgebreiteten Zeichen im Blick,

(6) die in ihren veränderlichen Farbpixeln bei derzeit noch nicht optimaler Auflösung, doch üppigem Farbeinsatz

(7) entweder Sachinformationen oder aber Links zu anderen Informationsgruppen enthalten, mit denen die Bildschirmseite neu gefüllt werden kann.

 

Wer heute Texte online liest, tastet nur noch partiell oder in besonderen Fällen eine linear konstruierte Ganzheit von vorne nach hinten ab; meist wählt er nach komplizierteren, durch Textdesign und Text-Bild-Gestaltung teilweise vorgeprägten Mustern das, worauf sein Auge fällt oder was ihn interessiert.

 

GM - 2.4 Hypermedia-Dokumente als Magazine für Sinnkonstruktion

 

Bei komplexen Hypermedia gibt es Kohärenz nur innerhalb einzelner Bestandteile, eine durchgängige kommunikative Funktion hingegen auch im gesamten Netz dieser Teile. Texte oder Teiltexte zusammen sind nicht gemeinsam kohärent, erfüllen aber die gleiche kommunikative Funktion, informieren nämlich über tagesaktuelle politische Neuigkeiten. Brinker (1992:17) zufolge wäre also Text "eine begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen, die in sich kohärent ist und die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert". [...] Nur einzelne Stücke innerhalb dieses vieldimensionalen Zeichengeflechts können als Texte in jenem klassischen Sinne gelten. Vom Standpunkt klassisch-linearer Texterwartungen aus betrachtet helfen sie dem Leser, die "Mängel" der Texte zu reparieren, die sich aus der Diskrepanz der zu kleinen Bildschirmfläche und dem multimedialen Durcheinander einer Überfülle an Zeichen ergeben.