Optische Labyrinthe im digitalen Journalismus. Text-Bild-Beziehungen in Online-Zeitungen

Schmitz, Ulrich (2001)

In: Hans-Jürgen Bucher/ Ulrich Püschel (Hg.): Die Zeitung zwischen Print und Digitalisierung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001, S. 207-232

Dokument als PDF-Datei:  (OMISSIS)

1. Online - mehr oder weniger Zeitung?

Die meisten bedeutenden internationalen Presseerzeugnisse mit Nachrichtenteil sowie alle überregionalen und viele regionale deutschsprachige Tages- und Wochenzeitungen unterhalten ein journalistisches Angebot unterschiedlicher Art und Qualität im World Wide Web, das hier zusammenfassend als "Online-Zeitungen" bezeichnet sei. [1]

Online-Zeitungen sind für Hersteller und Leser noch ungewohnte Medien. Wie es bei jedem neuen Medium (Schrift, Buch, Telefon, Radio, Fernsehen u.a.) anfangs der Fall war, bilden sich neue Formen der Darstellung und Anordnung von Informationen derzeit erst noch heraus. Die sachlichen, ergonomischen und didaktischen Probleme werden zunächst von den neuen technischen Möglichkeiten vorgegeben und können dann eine Eigendynamik entwickeln. Die für Anbieter und Nutzer relevanten technischen Bedingungen von Online-Zeitungen unterscheiden sich in dreierlei Weise von denen von Papier-Zeitungen: (1) sie sind billig, (2) sie verdichten und zugleich dehnen sie Zeit, (3) sie bieten ihre Informationen als multimediales Labyrinth dar.

(1) Online-Zeitungen werden ausschließlich digital ("immateriell") transportiert. Papier, Druck und Vertriebsweg entfallen. Deshalb verfügen sie über (prinzipiell) unbegrenzt viel Platz. Kosten entstehen, abgesehen von vergleichsweise minimalen Hard- und Softwarekosten, im wesentlichen nur für die redaktionelle Arbeit (Informationsbeschaffung und -aufbereitung).

(2) Online-Zeitungen können so stunden- oder minuten-aktuell sein wie Rundfunk und Fernsehen. Im Gegensatz zu diesen können sie aus dem gesamten erscheinenden Material mit einfachsten Mitteln Archive aufbauen, die jederzeit ad hoc auch noch in Monaten oder Jahren eingesehen werden können, und zwar auf genau die gleiche Weise wie das aktuelle Material.

(3) Online-Zeitungen werden normalerweise am Bildschirm gelesen, und zwar als Hypertext. Das befreit die Hände beim Lesen, strapaziert die Augen auf andere Weise als Papierlektüre, schränkt die auf einen Blick wahrnehmbare Fläche stark ein, zieht eine mehr labyrinthische und weniger lineare oder flächige Lektüreweise nach sich und läßt eine stärkere Medienmischung (einschließlich Audio- und Videosequenzen) zu als in allen herkömmlichen Massenmedien.

Insgesamt intensivieren Online-Zeitungen also drei Dimensionen von Kommunikation, nämlich (1) Menge, (2) Zeit und (3) Raum. Alles wird entweder mehr (1 und 2) oder dichter (2 und 3). Im Vergleich zu Papierzeitungen zeichnen sich Online-Zeitungen (zunächst nur potentiell, zunehmend aber auch tatsächlich) durch größere Informationsfülle, schnellere Aktualisierung und Übertragung sowie stärkere (nonlineare und modale) Komplexität aus - als ginge es um die journalistische Einlösung der olympischen Devise "altius, citius, fortius".

Das vierte Potential, welches digitale Medien intensivieren, nämlich Interaktivität, wird von Online-Zeitungen derzeit (noch?) kaum ausgenutzt, wenn man von einer im Vergleich zu Papierzeitungen manchmal größeren Menge möglicherweise auch unredigierter Leserbriefe in einigen Diskussionsforen einmal absieht.

Diese drei Steigerungen bringen Vorteile, aber auch Probleme mit sich. Zu den Vorteilen zählen allgemeinere, aktuellere und umfassendere Verfügbarkeit von Informationen (leider nicht automatisch schon Herstellung von Öffentlichkeit [2]. Probleme entstehen insbesondere durch den noch ungewohnten Umgang mit so vielen verschiedenartigen (heterogenen und multimodalen) virtuell verfügbaren Informationen, von denen jeweils nur ein winziger Ausschnitt auf dem Bildschirm sichtbar gemacht werden kann. Der Leser kann in seiner Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit ganz schnell überfordert werden und zum reizüberfütterten Zapper degenerieren. [3] (Anders' (1980:vii) viel umfassender gemeinte Bemerkung, daß wir "mehr herstellen als vorstellen" können, nimmt hier einen sehr wörtlichen engeren Sinn an.) Deshalb kann man von den Herstellern von Online-Zeitungen erwarten, daß sie den Zugang zu und den Umgang mit ihrem Informationsangebot ergonomisch und didaktisch unterstützen. Aus Textdesign in Papierzeitungen wird Multimedia-Design in Online-Zeitungen.

Wir konzentrieren uns im folgenden ausschließlich auf Beziehungen zwischen Text und Bild. [4] Die genannten drei Steigerungen nach Menge, Zeit und Raum erscheinen hier in folgender Weise.

(1) Wegen der noch langen Ladezeiten gibt es in Online-Zeitungen derzeit eher weniger Bilder (und teilweise wohl auch grafische Elemente) als in Papierzeitungen. Filme kommen erst in Ausnahmefällen vor. Anders als in Papierzeitungen werden Bilder gelegentlich nur in Teilen wahrgenommen, weil sie vor dem Weiterklicken auf dem Bildschirm erst unvollständig aufgebaut wurden. Diese drei Eigenarten ergeben sich aus noch unvollkommenen technischen Anfangsbedingungen und dürften sich in allernächster Zeit rasch ändern. Vermutlich kann und wird dem Nutzer eine viel größere Auswahl an Bildern zum gleichen Thema zur Verfügung gestellt werden, wo die Print-Redaktion ein einziges Motiv auswählen mußte. Bei anspruchsvollen Produkten stellen sich dann erheblich größere Anforderungen an integrierte Text-Bild-Redaktion, als sie derzeit erfüllt werden.

(2) Weil - erstens wegen der jungen Tradition und zweitens wegen der langen Übertragungszeiten und entsprechend geringen Nutzung - das visuelle Potential des neuen Mediums bei weitem noch nicht ausgeschöpft ist, werden Fotos derzeit nicht häufiger ausgetauscht als im Rhythmus der Tages- bzw. Wochenzeitungen. Anders als dort können sie ggf. aber über einen längeren Zeitraum als Archivmaterial umstandslos eingesehen werden. Grafische Elemente werden teilweise noch seltener aktualisiert: allein schon deshalb, weil sie teils ein gleiches Erscheinungsbild für einen hohen Wiedererkennungswert (corporate identity) garantieren sollen und teils als Werbung dienen.

(3) So liegt die entscheidende Herausforderung für die Gestaltung von Text-Bild-Beziehungen im dritten Bereich, der freilich mit den beiden zuvor genannten verbunden ist. (a) Texte werden schneller aufgebaut als Bilder. (b) Texte, grafische Elemente und Bilder konkurrieren auf einer Bildschirmseite um stark begrenzten Raum. (c) Die Hypermedia-Technik (Links) eröffnet eine komplexe, nicht leicht zu erschließende dritte Dimenson hinter der sichtbaren Fläche. Meist dienen dabei recht unterschiedliche Elemente in Text und Grafik (sowie theoretisch auch Fotos) jeweils gleichzeitig als Links zu den noch unsichtbaren textuellen und/oder visuellen Informationen dahinter. (d) Und aus diesen drei Gründen (a - c) sind die semiotischen Beziehungen zwischen den verschiedenen Zeichenarten (Text, Textdesign, Seitenlayout, Grafik, Foto, Link-Semiotik etc.) komplexer und deshalb auch schwieriger zu entschlüsseln als in Papierzeitungen.

Im folgenden Abschnitt 2 wird dargestellt, welche Kohärenzprobleme sich für Texte in hypermedialen Kontexten ergeben und wie sie durch visuelle Mittel gemildert werden können. Abschnitt 3 erörtert Text-Bild-Beziehungen in Online-Zeitungen sowohl theoretisch als auch an konkreten Beispielen. Der Ausblick in Abschnitt 4 entwickelt daraus knappe Vorschläge zur Verbesserung von Erscheinungsbild und Text-Bild-Integration in Online-Zeitungen.

2. Textkohärenz und Flächendesign

2.1 Innere Gliederung und äußere Gestalt

Bis zum Aufkommen der Boulevard-Zeitungen lieferten Tages- und Wochenzeitungen in erster Linie Texte, und in erheblichem Maße tun sie das auch heute noch. Je mehr wir in die Vergangenheit zurückgehen, desto mehr handelte es sich dabei - vor allem im redaktionellen Teil - um formal homogene (durchgehend gleichartige, typographisch einfache und fortlaufend in Zeilen und später auch Spalten gesetzte) sowie inhaltlich mehr oder weniger in sich geschlossene Texte, von denen erwartet wurde, daß sie von vorne nach hinten gelesen wurden. In diesem Sinne waren herkömmliche Zeitungen im großen und ganzen den Normen verpflichtet, die seit der Erfindung des Buchdrucks für schriftliche Texte galten. Dabei gab es zunehmend mehr Varianten für unterschiedliche Texsorten; sie bewegten sich jedoch innerhalb eines - verglichen mit heute - recht kleinen Spektrums. Dieser klassische Textbegriff ist heute nicht überholt, wird aber zunehmend variiert, ergänzt und erweitert durch immer komplexere, heterogenere und multimedialere Formen - ganz so, wie Wittgenstein (1960:296 = § 18) die Sprache mit einer Stadt samt altem Zentrum und immer neuen Zubauten und Vororten vergleicht, nur daß im Falle der Textentwicklung genau umgekehrt just die älteren Formen eher "mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern" ausgestattet, die jüngeren hingegen "Gewinkel von Gäßchen und Plätzen" sind.

Der klassische Textbegriff orientiert sich stark an der Vorstellung innerer (thematischer) und äußerer (formaler) Ganzheit. (Jeder klassische Text hat eine imaginäre Stadtmauer, die seine Identität bestimmt.) Das schlägt sich auch in wissenschaftlichen Begriffen von dem, was Text sei, nieder. Für van Dijk (1980:41) etwa werden Satzsequenzen durch einen einheitlichen (makrostrukturellen) semantischen Zusammenhang zu Texten. De Beaugrande/Dressler (1981) zufolge muß eine "kommunikative Okkurenz" sieben Textualitätskriterien erfüllen, um als Text (im Gegensatz zu einem Nicht-Text) gelten zu können (ebd. 3 et passim). Vater (1992:31-66) argumentiert demgegenüber, daß allein eines dieser sieben Kriterien obligatorisch sei, nämlich Kohärenz (also inhaltlicher Zusammenhang). Diese werde vom Text-Thema dominiert, das seinerseits als nichtsprachliche Größe in einen vom Text unabhängigen Wissenszusammenhang auf seiten der Textverfasser und -leser eingebettet sei (ebd.66). Diese Auffassungen führen konsequenterweise dazu, daß man einem sprachlichen Gebilde selbst nicht ansehen kann, ob es sich um einen Text handelt oder nicht. Nun widerspricht dieses akademische Ergebnis der Alltagserfahrung: ohne sophistische Verwirrungen haben Menschen eine einigermaßen klare Vorstellung davon, was sie für (mehr oder weniger prototypische) Texte halten und was nicht: Romane, Gedichte, Briefe, Aufsätze, Zeitungsartikel gelten fraglos als Texte (selbst wenn sie kein durchgehendes Text-Thema haben), die Aufdrucke auf Plakaten, Schildern, Konservendosen, Buchumschlägen und die einzufüllenden Buchstaben in Formularfeldern eigentlich auch.

Diese Beobachtung legt nahe, daß in klassischen Textdefinitionen ein ebenso triviales wie entscheidendes Merkmal übersehen wurde, nämlich die Einheit des Ortes, an dem Zeichen stehen. Wenn ein Platz als einheitlicher Ort [5] wahrgenommen wird, erwartet man, daß die an diesem Ort anzutreffenden Zeichen zusammengehören. Der gemeinsame Ort stiftet die lektüreleitende Hypothese, daß die hier versammelten Zeichen einen sinnvollen Zusammenhang ergeben, also Text bilden. Ein gemeinsamer Ort ist die Voraussetzung dafür, daß etwas als Gestalt wahrgenommen werden kann, hier insbesondere einzelne Zeichen als zusammenhängende Superzeichen.

Diese unkonventionelle, aber realistische Sichtweise trägt insbesondere auch der Tatsache Rechnung, daß mit zunehmender Differenzierung der medialen Techniken und Formen und im Gefolge auch der Textsorten die optischen Elemente der Textgestaltung immer mehr an Bedeutung gewinnen. Diese Entwicklung begann in der Frühgeschichte der Schrift [6] und setzt sich umso schneller fort, je wichtiger "rasche Zugriffszeiten" (Raible 1991:6) auf wachsende Informationsmengen werden. [7] Je mehr das gesamte gleichzeitig zugängliche Informationsangebot den Umfang eines einzelnen Textes übersteigt, desto weniger kann die Gliederung des Ganzen (dispositio) innerhalb der sprachlichen Ausarbeitung (elocutio) eines einzelnen Textes dargelegt werden. Das ist die Geburt von Textdesign: man erfindet lektüresteuernde Paratexte [8] und visuelle Hilfen jenseits des linearen Schriftverlaufs (Typographie, Rubriken, Inhaltsverzeichnisse, Paginierung, Marginalien, Layout etc.). [9] Texte werden aber nicht nur äußerlich anders präsentiert, sondern sie nehmen auch andere innere Textformen an; neue Textsorten entstehen (z.B. Enzyklopädien und die immer zahlreicher ausdifferenzierten journalistischen Textsorten).

Hypermediale Bildschirmseiten nun sind der bisher komplexeste und zugleich am wenigsten durchgearbeitete Versuch, möglichst große und vielfältige Informationsmengen auf möglichst übersichtliche (d.h. schnelle) Weise zugänglich zu machen. Auf der kleinen Sichtfläche des Bildschirms ist zu jedem Zeitpunkt jeweils nur eine sehr kleine Auswahl der gesamten zur Verfügung stehenden Informationsmenge sichtbar. Da zahlreiche (oft unendlich viele) verschiedene Auswahlen getroffen werden können, entstehen schwierigere Orientierungsprobleme als in Printmedien. Stärker noch als in herkömmlichen Medien (z.B. Papierzeitungen) können visuelle Mittel bei deren Lösung helfen. Die Anordnung (dispositio) des Ganzen geht dann weniger aus seiner inneren Gliederung (elocutio) als vielmehr aus seiner äußeren Gestalt (pronuntiatio) hervor. Damit der Benutzer eine Vorstellung von dem Gesamtangebot oder zumindest Teilen davon hat, enthält jede Seite außer der sachlichen Information in der Regel auch (unterschiedliche und unterschiedlich viele) sichtbare Hinweise auf Inhalt und Struktur des Ganzen. (Das ist in Printmedien nicht der Fall, weil die Gesamtübersicht durch Inhaltsverzeichnis, Register, manuelles Blättern o.ä. Hilfsmittel erreicht wird.) Wer hypermediale Angebote (z.B. Online-Zeitungen) gestaltet, muß dabei also zwischen jedem möglichen kleinen Teilausschnitt (jeder Bildschirmseite, die der Benutzer abrufen oder zusammenstellen kann) und Gesamtangebot vermitteln.

In der Papierzeitung ist das Blatt als äußere Fläche (res extensa) fest gestaltet. Ihr Layout leitet den Leser (res cogitans) dazu an, die Einheit des jeweiligen Ortes zu entdecken, an dem inhaltlich zusammengehörige Zeichen versammelt sind. In der Online-Zeitung ist der screen als äußere Fläche zunächst leer. Der Leser füllt sie ad hoc mit Zeichen, die über virtuelles Design vorgestaltet sind. Zeitungsdesign ist fixiert, screen design variabel und muß deshalb hinsichtlich seiner möglichen Erscheinungsformen durchdacht werden, damit der Leser auch hier einheitliche Orte und darüber sinnvolle Ganzheiten entdecken oder aufbauen kann.

Die gegenüber der Papierfläche komplexere Orientierung im virtuellen Raum geht einher mit komplexeren Gestaltungsmöglichkeiten auch innerhalb der angebotenen Zeichen. Sie können fraktal (selbstähnlich) aufgebaut sein. Teile von Texten können auch Texte sein (wie Moosteppiche oder Gemeinschaften) - bis hinunter zu einer intuitiv ad hoc zu beurteilenden kleinsten Größe. So gesehen sind herkömmlich lineare Texte eine Teilmenge von Hyper(media)texten, die nicht alle deren Möglichkeiten ausnutzen. (So wie natürliche Zahlen eine Teilmenge aller Zahlen sind: nur derjenige, der allein natürliche Zahlen gewohnt ist, fragt sich angesichts z.B. irrationaler Zahlen, inwiefern das denn noch Zahlen sein sollen.) [10] Ganz ähnlich kann man auch die Geschichte der Zeitungen als eine fortschreitende Entfaltung ihres technischen und kommunikativen Potentials betrachten: frühe Zeitungen nutzen nur eine sehr kleine Teilmenge des heute Möglichen. [11] So zeigt das zunehmend komplexere Textdesign in Wochen- und Tageszeitungen, wie gedruckte Zeitungen selbst schon mehr und mehr Elemente von Hypermediatext enthalten: sie bieten ihre Informationen polymedial (statt nur schriftlich) und modular (statt nur linear) dar und unterstützen selektive (statt nur sequentielle) Lektüre. [12] Je umfangreicher und komplexer das hypermediale Angebot ist, desto mehr muß Kohärenzbildung durch visuelles Design unterstützt werden. [13]

2.2 Der Bildschirm als Textschirm

Wie werden hypermediale Bildschirmseiten in Online-Zeitungen nun tatsächlich gestaltet? Sinnvollerweise knüpft man an herkömmliche Mittel an und führt sie weiter.

Abb. 1: Erste Seite der Online-Ausgabe einer Tageszeitung (Ausschnitt) [14]

Der Bildschirm wird als Textschirm benutzt. Möglichst viel Text wird in möglichst kleinen Portionen feilgeboten und mit grafischen Elementen und Bildern zu einem Plakat komponiert. Lineare Texte, Textdesign-Strategien und nichtsprachliche (visuelle) Zeichen füllen eine Fläche, auf der sich zunächst nichts bewegt. Grundsätzlich könnte das in seiner magazinartigen Form so ähnlich auch in Papiererzeugnissen stehen. Wirklich neu ist nur seine digitale Existenz in veränderlichen Pixeln, die ständige Bewegung auf dieser Fläche erlaubt. [15] Eben diese Dynamik aber löst hergebrachte Einheiten weiter auf.

Grundsätzlich können alle alten journalistischen Formen auch in Online-Zeitungen vorkommen, von langen fortlaufenden Texten über großformatige Bilder bis zu sämtlichen Mischformen und eingescannten Abbildern von Papierzeitungen. Die avantgardistischen Formen der Informationsdarbietung auf Papier sind zugleich diejenigen, die im digitalen Medium am liebsten aufgegriffen und in ihrer Entwicklung radikalisiert werden. Dazu zählen vor allem (in unserem Beispiel gut sichtbar) Clustering auf der Seite der inneren Textform und Flächengestaltung auf der Seite des visuellen Designs. Nicht nur in den vielfältigen weichen Randbereichen des journalistischen Info- und Entertainment, sondern längst auch in Kernbereichen der journalistischen Berichterstattung werden klassisch-lineare Textsorten durch anders geordnete Textcluster und -aggregate aufgelöst oder erweitert. [16]

Die Entwicklung zu immer mehr, immer kompakteren, immer weniger monomedialen (rein schriftlichen) und immer verschiedenartigeren Informationseinheiten geht - schon im Interesse der Leserbindung - einher mit immer differenzierterer und auch ästhetisch anspruchsvollerer Flächengestaltung, die Aufmerksamkeit heischt [17] und das suchende Auge unterstützt. Auf äußeres Erscheinungsbild, Layout, komplexe Text-Bild-Gestaltung und Textdesign wird umso mehr Wert gelegt, je differenzierter der Pressemarkt und je heterogener das Angebot innerhalb eines Erzeugnisses ist. Gelesen wird nicht linear (von vorne nach hinten), sondern punktuell (hier und da). Angesichts steigender Informationsmengen (deswegen keineswegs wachsender Informationsqualität oder auch nur individueller Lektürezeit) bewegen sich Anbieter und Leser ständig an der Grenze zu Chaos, Heterogenität, Auseinanderfall, Desorientierung und Verwirrung. Weisen die eingehenden Informationen "einen geringeren Kohärenzgrad auf, so steigen [...] die Integrationsanforderungen an den Leser. Andererseits besitzt er mehr Freiheitsgrade, die Information zu ordnen und sie seinen spezifischen Interessen anzupassen." (Weingarten 1997:216)

(Moderne (oder wenn man so will: postmoderne), vor allem multimedial geprägte Texte haben keine imaginäre Stadtmauer, die auch ihre innere Struktur organisiert, sondern sind nur von dem Platz, den sie tatsächlich beanspruchen, sozusagen von außen begrenzt.)

2.3 Orientierung in hypermedialen Zeichenmengen

Eben dieser Platz erscheint im digitalen Medium freilich auf zweierlei Weise. Virtuell gibt es unendlich viel Platz; optisch sichtbar ist davon zu einem bestimmten Zeitpunkt aber jeweils nur so viel, wie auf eine Bildschirmseite paßt. Während das Ganze einer Papierzeitung materiell übersichtlich vor Augen liegt und einzelne Informationen daraus handgreiflich und schnell aufgefunden werden können, sind Grenzen und Struktur des Gesamtangebotes von Online-Zeitungen kaum oder nur vergleichsweise schwer zu übersehen, und einzelne Informationen daraus müssen mit oft noch ungewohnten Techniken angesteuert werden. (In unserem vergleichsweise traditionellen Beispiel aus Abb. 1 etwa ist nicht ohne weiteres zu erkennen, daß der obere und der linke Rand zusammen neunzehn (und nicht etwa mehr oder weniger) Rubrikenköpfe enthalten, zu welcher Art und Menge von Information sie führen, daß sich hinter "Lesen Sie weiter" jeweils reine Textdateien mit dem linearen Ganztext verbergen, hinter "Pulverfass Kosovo" eine Sammlung unterschiedlichster Beiträge zum Thema aus verschiedenen Tagen und hinter anderen Elementen der Seite gar nichts.) Die Aufmerksamkeitslenkung und Informationssuche gestaltet sich in Online-Zeitungen also wesentlich aufwendiger (und beim derzeitigen Stand der Dinge auch umständlicher) als in Papierzeitungen.

Bruner (1987:56) zufolge ist es für den Menschen (im Gegensatz zu anderen Lebewesen) charakteristisch, daß er die Aufmerksamkeit anderer durch "Erbitten und Anbieten von Information mit Hilfe von Hinweisen, Bildern und Symbolen beeinflußt". Diese Aufmerksamkeitssteuerung wird mit wachsender Informationsmenge und bei gleichzeitig zunehmender Technisierung immer komplexer. Orientierung und Kohärenz sind in Online-Zeitungen deshalb noch schwerer zu erreichen als in Papierzeitungen. Wohl alle Online-Zeitungen haben dieses Problem bisher erst unzureichend gelöst. Das liegt insbesondere daran, daß sich in der weltgeschichtlich kurzen Epoche unserer herkömmlichen Buchkultur [18] eine mehr oder weniger strikte Opposition von linearen und nichtlinearen Gestaltungsformen von Wissen ausgebreitet hat, deren Dominanz erst seit einigen Jahren und vielleicht Jahrzehnten schwindet. Tatsächlich gibt es ja ein Kontinuum zwischen Linearität und Nichtlinearität. Auf der einen Seite stehen in sich geschlossene geschriebene Texte, auf der anderen Seite ikonische Bilder (z.B. Fotos). Je mehr diese Lücke durch integratives Design geschlossen werden kann, desto eher werden technische Bedingungen und semiotische Möglichkeiten digitaler Medien ausgeschöpft. Das ist der Weg zur Lösung der genannten Probleme, nämlich der Weg zu einem sinnvollen Ausgleich zwischen heterogener Informationsfülle und angemessener Kohärenzbildung bei leserfreundlicher Orientierung. Das Medium birgt also selbst die Möglichkeiten zur Lösung der Probleme, die es schafft.

Doch die Entwicklung steht erst am Anfang. Online-Zeitungen sind eines der Versuchslabore für neuartige Textgestaltung. Zunächst sollen sie die meisten Ansprüche erfüllen, die man auch an herkömmliche (d.h. gedruckte) Zeitungen stellte und stellt. In der Reihenfolge historischen Auftretens und zugleich abnehmender Wichtigkeit sind das (objektive) Aktualität, (subjektiver) Neuigkeitswert, Informationsgehalt, Unterhaltungswert, Angebots- und Textsortenvielfalt sowie Text-Bild-Mischung. Darüber hinaus müssen Online-Zeitungen aber auch den anderen technischen Bedingungen entsprechen, die das neue Medium fordert. Der klassische Zeitungsleser (1) hält eine Menge von Papierseiten (2) mit (je Produkt) standardisiertem Hoch- und Großformat in der Hand (3) und blättert sie mit Armen und Händen durch; (4) sie sind bereits fertig und unveränderlich bedruckt. (5) Er oder sie kann jede einzelne oder auch je zwei dieser Seiten komplett im Auge halten und wird sich auf dieser Fläche orientieren, (6) um fest gedruckten, fein verteilten Farbpigmenten (größerenteils nur schwarz-weiß) (7) Sachinformationen zu entnehmen. Der Online-Zeitungsleser hingegen (1) sitzt (heute) vor einem einzigen flachen Bildschirm (2) beliebiger, aber meist viel geringerer Größe im Querformat, (3) den er durch milli- oder zentimeterweite Handbewegungen und jeweils einen leichten Fingerdruck auf die Maustaste (4) mit fortwährend verschiedenen Inhalten füllen kann. (5) Sie oder er hat nur die auf einer Bildschirmseite ausgebreiteten Zeichen im Blick, (6) die in ihren veränderlichen Farbpixeln bei derzeit noch nicht optimaler Auflösung, doch üppigem Farbeinsatz (7) entweder Sachinformationen oder aber Links zu anderen Informationsgruppen enthalten, mit denen die Bildschirmseite neu gefüllt werden kann.

Diese neuen technischen Bedingungen ziehen Textsorten und vor allem poly- und multimediale Zeichenmengen nach sich, die Kohärenz nicht linear, sondern mehrdimensional projiziert. Dabei sind visuelle Gestaltungsmöglichkeiten als Orientierungshilfen gefordert, die die in längst nicht mehr rein textorientierten Printmedien bereits erprobten weiterführen und übersteigen. Wer heute Texte liest, tastet nur noch partiell oder in besonderen Fällen eine linear konstruierte Ganzheit von vorne nach hinten ab; meist wählt er nach komplizierteren, durch Textdesign und Text-Bild-Gestaltung teilweise vorgeprägten Mustern das, worauf sein Auge fällt oder was ihn interessiert.

2.4 Hypermedia-Dokumente als Magazine für Sinnkonstruktion

Der klassische Textbegriff [19] zerschellt schon an hochentwickelten multimedialen Zeichenmengen, wie es sie auch in Printmedien gibt, und erst recht an hypermedialen Zeichenmengen in zwei Stücke, die im Falle bloß linearer Schriftzeichen als notwendig zusammengehörig verstanden werden. Bei komplexen Hypermedia nämlich gibt es Kohärenz nur innerhalb einzelner Bestandteile, eine durchgängige kommunikative Funktion hingegen auch im gesamten Netz dieser Teile. Abb. 1 etwa, um zunächst ein sehr einfaches Beispiel zu nehmen, enthält die drei Anfänge unterschiedlicher linearer Texte, die jeweils in sich einen verständlichen Sinn ergeben, aber an anderer Stelle auch weitergeführt werden. Alle drei Texte oder Teiltexte zusammen sind nicht gemeinsam kohärent, erfüllen aber die gleiche kommunikative Funktion, informieren nämlich über tagesaktuelle politische Neuigkeiten. Brinker (1992:17) zufolge hieß Text "eine begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen, die in sich kohärent ist und die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert". Prototypische (avantgardistische) Hypermedia-Dokumente im Internet, zum Beispiel Online-Zeitungen, sind nun aber weder begrenzt noch eine Folge noch ausschließlich oder auch nur weit überwiegend sprachlicher Zeichen. Sie sind vielmehr prinzipiell unendlich, jederzeit veränderbar und nicht als sequentielle Folge, sondern hierarchisch-modular konzipiert. Nur einzelne Stücke innerhalb dieses vieldimensionalen Zeichengeflechts können als Texte in jenem klassischen Sinne gelten. Ihrerseits werden sie aber sichtlich nur als Stücke innerhalb eines flexiblen und stets veränderlichen Ganzen präsentiert, das gerade auch "als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert" - unter anderem nämlich die, daß der Nutzer sich an diesem Ort mit spezifischer corporate identity Informationen seiner Wahl zusammensuchen kann und soll.

Von den linguistischen Textbegriffen wird nur der "dynamische" von Heinemann/Viehweger (1991:126) solchen Phänomenen gerecht; er ist aber leider zirkulär. [20] Deshalb plädieren wir hier für einen (mono-, poly- oder ggf. multimedialen) Textbegriff, der die Versammlung von Zeichen an einem Ort als Einladung zu flexibler Sinnsuche und damit Kohärenzbildung versteht, die der Leser unter mehr oder minder intensiver Hilfestellung durch die vom Produzenten gestaltete innere und äußere Textform leisten kann und soll.

Abb. 2: Titelseite der Online-Ausgabe einer Boulevard-Zeitung [21]

Der ungeübte Betrachter wird dieses Bild für ein animierendes Plakat halten, das er wie das Titelblatt eines Papiermagazins wegzublättern hat, um zu den eigentlichen Informationen zu kommen. Der geübte Online-Leser behandelt diese Seite vielmehr wie eine wegweisende Inhaltsübersicht und weiß, daß Klicken auf bestimmte Stellen ihn zu verschiedenartigen Informationen bringen wird, die teilweise ihrerseits wieder orientierende und informierende Funktionen zugleich erfüllen. (Je tiefer sie oder er dabei ins hypermediale Zeichenlabyrinth eindringt, desto geringer wird in der Regel der Anteil an orientierenden und desto umfangreicher der Anteil an informierenden Elementen.)

Visuelle Bestandteile dienen dabei oft als Orientierungshilfen. Vom Standpunkt klassisch-linearer Texterwartungen aus betrachtet helfen sie dem Leser, die "Mängel" der Texte zu reparieren, die sich aus der Diskrepanz der zu kleinen Bildschirmfläche und dem multimedialen Durcheinander einer Überfülle an Zeichen ergeben. Aus dem Blickwinkel der semiotischen Potentiale des digitalen Mediums hingegen ergeben sich freilich noch weitgehend ungenutzte Möglichkeiten, neuartige hypermediale Zeichenkompositionen aus eigenem Recht zu gestalten.

3. Bilder bei Texten, Texte bei Bildern

Bilder wurden immer schon auf andere Weise wahrgenommen als Texte, nämlich - je nach Bildsorte - flächig (z.B. Gemälde), fokussierend (z.B. Plakate), labyrinthisch (z.B. Landkarten) und/oder punktuell (z.B. großformatige Wandbemalungen). Linearität spielt innerhalb eines Bildes keine Rolle, sondern nur in Bildfolgen wie etwa fortlaufenden Bildgeschichten (Comics). Texte in multimedialen Kontexten neigen immer mehr dazu, sich den Rezeptionsgewohnheiten für Bilder anzupassen. In der Werbung insbesondere wandern Texte in Bilder ein und werden mehr oder minder integrierte Bestandteile davon. (Nur bei älterer oder altmodischer Werbung ist es noch umgekehrt.)

Bildkohärenz wird auf eine ganz andere Weise erreicht als Textkohärenz. Sie kann hier nicht eigens diskutiert werden, weil es dazu (außer ästhetischen und kunstgeschichtlichen Beiträgen) kaum Vorarbeiten gibt; und sie braucht es auch nicht, weil Bilder - anders als Texte - in Online-Zeitungen bisher keinen grundsätzlich anderen Status haben als in Papierzeitungen. [22] Deshalb geht es im folgenden um die Frage, ob visuelle Elemente in Online-Zeitungen das grundsätzliche Kohärenz-Problem mildern oder verschärfen. Wenn man bedenkt, daß der verständnisleitende, also kohärenzstiftende Einstieg in Bilder nicht selten durch Texte (Bildtitel, Bildunterschriften, Kommentare) gegeben oder zumindest unterstützt wird (z.B. unten in Abb. 4) [23], liegt es ja nahe, die (Re-)Konstruktion von Kohärenz gerade bei komplexen, heterogenen, labyrinthischen Texten umgekehrt durch visuelle Elemente zu erleichtern. Doch beides kann auch mißlingen: Texte und Bilder können beziehungslos nebeneinander stehen, voneinander ablenken oder einander im Wege stehen.

3.1 Vier Aufgaben von Bildern in Online-Zeitungen

Zu visuellen Bestandteilen gehören Bilder, Grafiken und Layout-Elemente. Im einzelnen sind das vor allem Filme, Fotos, Zeichnungen, Infografiken, Icons, Buttons, Typographie, Farbverteilung, Textdesign und Seitengestaltung (screen design). In ihrer Gesamtheit sollen sie (1) Aufmerksamkeit heischen, (2) Lektüre steuern, (3) informieren und (4) unterhalten, auch wenn jede einzelne Sorte diese verschiedenen Aufgaben in unterschiedlicher Mischung, Gewichtung und Ausprägung erfüllt. Im folgenden betrachten wir vorzugsweise Fotos als (neben dem screen design) prominentestes Mittel visueller Gestaltung in Online-Zeitungen, das sich zugleich inhaltlich am engsten auf Texte beziehen läßt.

Aufmerksamkeit auf sich ziehen (1) soll etwa das Bikini-Mädchen oben in Abb. 2, Lektüre steuern (2) die Gesamtgestaltung von Abb. 2, aber auch das Politiker-Foto in Abb. 1.

In unserem Zusammenhang am interessantesten ist die dritte, nämlich die informierende Rolle von Bildern, weil sie der vorwiegenden Aufgabe von Texten in Online-Zeitungen am nächsten kommt. Weidenmann (1995:108-111) unterscheidet drei instruktionale Funktionen von Abbildern beim Lernen. Sie können dem Betrachter helfen, eine deutliche und zutreffende bildhafte Vorstellung von etwas zu entwickeln (Zeigefunktion), Detailinformationen in einen Rahmen einzubetten (Situierungsfunktion) oder aber komplexere Realitätsausschnitte durch ein adäquates mentales Modell zu verstehen (Konstruktionsfunktion). Im Tagesjournalismus entsprächen dem etwa informative Fotos (vgl. unten Abb. 4), ausführlich illustrierte Reportagen (vgl. Abb. 5) bzw. Infografiken. In Online-Zeitungen erscheinen Abbilder in der Regel bisher fast nur in der Zeigefunktion (wie in Abb. 4). Oft dienen sie, wie das auch in gedruckten Zeitungen vorkommt, lediglich als plakativer Einstiegspunkt neben Texten, ohne daß der Text näher auf den Bildinhalt einginge (wie in Abb. 2). Nicht selten öffnen sich dabei Text-Bild-Scheren, wie Wember (1976) sie fürs Fernsehen beklagt hat, so etwa in der folgenden Abb. 3.

Abb. 3: Hauptnachrichten einer Online-Tageszeitung (Ausschnitt) [24]

Auf den ersten Blick und auch bei genauer Lektüre allein des Textes ohne die fern vom Bild petit gesetzte Bildbeschreibung vermutet man in dem ersten Foto den in Überschrift und Text fokussierten Täter und nicht das (welches?) Opfer. Das im zweiten Bild gezeigte Ereignis des Vortages (Mittwoch in Bulgarien) kommt im Text (Donnerstag in Jugoslawien) gar nicht vor. Lediglich die Bildüberschrift und die vorangestellten Ortsangaben im Text halten Text und Bild locker zusammen.

Gelegentlich gibt es auch reine Bildergalerien mit lediglich benennendem, nicht aber erläuterndem Kurztext, so in Abb. 4.

Abb. 4: Themenbezogene Bildergalerie (Ausschnitt) [25]
 

Hier ist die Grenze zur vierten Bild-Funktion, die der Unterhaltung, auf ähnliche Weise überschritten wie in Papier-Illustrierten und im Infotainment-Fernsehen.

3.2 Vier Arten von Text-Bild-Beziehungen

Man kann vier Arten von Text-Bild-Beziehungen unterscheiden. Sie werden hier in der Reihenfolge zunehmender Qualität aufgeführt und dementsprechend mit wachsender Ausführlichkeit exemplarisch besprochen. (1) Diskrepanz: Text und Bild lenken voneinander ab (in der Regel das Bild vom Text). (2) Neutralität: Text und Bild stehen gleichgültig nebeneinander. (3) Ergänzung: Der Text ergänzt das Bild (oder das Bild den Text) durch zusätzliche Informationen, die in dem anderen Medium nicht ausgedrückt werden (insbesondere nicht werden können). (4) Wechselseitige Erhellung: Text und Bild erläutern einander.

Beispiele für die erste Gruppe (Diskrepanz zwischen Text und Bild) stehen oben in Abb. 3: der erste Text läßt eher ein Foto des Täters erwarten; für die fehlgeleitete Rakete vom Mittwoch gibt es in dem Text über Donnerstag keinen Anknüpfungspunkt; lediglich die Überschrift verknüpft beide. Ein Beispiel für die zweite Gruppe (Neutralität zwischen Text und Bild) findet sich in dem (unbeschrifteten) Foto des Pressehauses oben in Abb. 1.

Die meisten Fotos in Online-Zeitungen gehören in das Übergangsfeld zwischen der zweiten und dritten Gruppe, wenn nämlich Text und Bild durchaus getrennt voneinander vorkommen könnten, das Bild eher zur optischen Auflockerung dient, aber doch Informationen enthält, die im Text nicht so wichtig sind oder auch nicht schriftlich dargestellt werden können (z.B. das Politiker-Foto oben in Abb. 1).

Wegen des nicht geringen redaktionellen Aufwandes kommen reine Fälle aus der dritten Gruppe (Ergänzung von Text und Bild) in Online-Zeitungen noch nicht oft vor, obwohl deren technische Grundlage sie zu einem ausgezeichneten Medium genau dafür macht. Sie wird am deutlichsten verkörpert in bildintensiven Dossiers zu größeren thematischen Zusammenhängen, die über den Tag oder die Woche hinaus weisen. Als Beispiel diene eine reichhaltige Dokumentation über Terror gegen US-Bürger, aus der hier nur ein ausgewählter Zustand der zweiten (in sich veränderlichen) Seite abgebildet werden kann.

Abb. 5: Dossier über Terror gegen US-Bürger [26]

Abgesehen von der in stets wechselnden Bildern eingeblendeten Werbung sind Layout, Texte, Bilder, Grafiken und Multimedia-Design hier zu einer ästhetisch einheitlichen Dokumentation durchkomponiert. Die jeweils aus der Sache begründete Verknüpfung vieler hypermedialer Techniken erlaubt dabei eine inhaltlich anspruchsvolle, ergonomisch ansprechende und individuell anzusteuernde Präsentation, wie sie weder in Printmedien noch im Fernsehen möglich wäre.

Die vierte und letzte Gruppe (wechselseitige Erhellung von Text und Bild) ist die semiotisch ergiebigste und für den Nutzer hilfreichste. Sie erfordert freilich intensive Redaktion, ist nicht bei allen Themen sinnvoll oder möglich und kommt in Online-Zeitungen sehr selten vor, seltener als in einfachen Papierzeitungen (im Gegensatz zu Illustrierten). Hier folgt ein Beispiel, bei dem überlegene technische Möglichkeiten zu intensiverer Aufbereitung im Online-Medium geführt haben.

Online-Bilder bedürfen zwar längerer Zugriffszeit als Zeitungsbilder, wirken optisch aber brillianter und suggestiver. Als eine der bisher ganz wenigen Online-Zeitungen nutzt "Time" diesen technischen Vorteil für eine journalistische Textform, die es bisher annäherungsweise nur in Wochen- oder Monatsmagazinen auf glattgestrichenem Papier gab, nämlich den Foto-Essay. Hier das erste Bild eines solchen Essays zu Wirbelstürmen in den USA.

Abb. 6: Foto-Essay über Wirbelstürme [27]

Dieses Foto erschien auch in zahlreichen gedruckten Tageszeitungen. Auch im Farbdruck erreicht es dort nicht annähernd die Wiedergabequalität und Leuchtkraft wie auf dem Bildschirm. Außerdem können in Papierzeitungen nur sehr wenige Fotos (selten mehr als eines zu einem Thema) wiedergegeben werden, online grundsätzlich aber unendlich viele. (Wären die Bilder auch noch bewegt und besprochen statt beschrieben, stünde dieser Teil der Online-Zeitung dem Fernsehen näher als der Papierzeitung.) Wiedergabequalität und Bilderzahl laden zu unterschiedlicher Betextung in beiden Medien ein. Auf der Titelseite der Rheinischen Post vom 5. 5. 1999 steht unter dem gleichen Agentur-Bild [28]:

"Bei den bisher schwersten Tornados in den USA sind mindestens 46 Menschen getötet und verheerende Schäden angerichtet worden. Hunderte Einwohner in den betroffenen Bundesstaaten Oklahoma und Kansas waren nach Tagesanbruch noch vermißt. Mehr als 500 Menschen wurden in Krankenhäusern behandelt und über 2000 Häuser komplett zerstört. Die Wirbelstürme rasten mit Geschwindigkeiten von mehr als 400 Stundenkilometer [sic] durch die Ortschaften. Unterdessen rüstete sich die Bevölkerung bei anhaltend schlechtem Wetter für weitere schwere Wirbelstürme."

Das ist ein klassischer Nachrichtentext mit pyramidenförmigem Aufbau, kürzbar von hinten nach vorn, aus fünf einfachen zahlen- und faktenorientierten Hauptsätzen mit fast ausnahmslos neutral beschreibenden Wörtern. Der Text ist aus sich heraus verständlich und nicht auf das Bild angewiesen. Das Bild steht als Blickfänger und Illustration beim Text und wird vom Textleser konventionell als Abbildung eines Momentes aus dem im Text beschriebenen Gesamtgeschehen verstanden, ohne daß das im Text so erklärt würde.

Der (mit 80 statt 72 Wörtern) nur wenig längere englische Text dagegen ist ein typischer Erzähltext. Die Überschrift "Black Death" bezieht die sichtbare dunkle Tornadofarbe metaphorisch interpretierend auf die mit "Pest" verbundenen mentalen Bilder und (je nach Leserschicht) evtl. auf Erzählungen von Edgar Allan Poe ("The Masque of the Red Death": selbst scharlachrotes Fensterglas und nachtschwarzen Samt aus dem siebten Gemach kann man mit wenig Phantasie in den beiden Farben wiederkennen, die die oberen zwei Drittel des Tornado-Fotos füllen). Die folgenden ersten beiden Wörter ("This tornado") knüpfen den Text eindeutig an die abgebildete einzelne Situation, die dann auch in ihrem Ausmaß, ihren Folgen und ihrer räumlichen und zeitlichen Lokalisierung näher beschrieben wird, bevor die Perspektive als eine exemplarische erweitert wird ("one of many"). Die folgenden Zahlen sind weniger genau (oder besser: suggerieren einen geringeren Präzisionsgrad) als die im deutschen Nachrichtentext. Der abschließende Satz führt diese Episode inhaltlich zu Ende ("have quieted") und gibt ihr eine schicksalhafte Perspektive in gleichwohl sinnlich konkreter, fast theatralischer Schlußpointe. Auch das Vokabular wird von einer subjektiv interpretierenden Erzählhaltung getragen ("was estimated", "swath of destruction", "rumbled", "death toll", "once" etc.).

Deutscher und englischer Text unterscheiden sich wie Weinrichs (1985) "besprochene und erzählte Welt". Im englischen Erzähltext kommen erwartungsgemäß nur Verben im Präteritum (past tense) vor. Daß der deutsche Text weniger Perfektformen enthält als nach Weinrich zu erwarten wären, liegt erstens an einer gewissen (im Laufe der verschiedenen Auflagen seines Buches zunehmend zurückgenommenen) Überzeichnung bei Weinrich, zweitens an der Sonderstellung des Verbs "sein" (das aus sprachökonomischen Gründen oft im Präteritum vorkommt, wo andere Verben im Perfekt stünden) und drittens am Nachrichtenstil, der mit bevorzugter Präteritumswahl eine größere Objektivität und Distanz gegenüber gesprochener Sprache suggeriert, als sie bei Perfektformen empfunden werden.

Insgesamt stellt die Papierzeitung eine Illustration neben den autonomen Nachrichtentext, während im Foto-Essay der Online-Zeitung der erzählerische Text dazu dient, aus den Bildern eine erlebbare Geschichte zu machen. Unter dem kohärenzstiftenden Gesamttitel "The Force of Nature" wird diese Geschichte in den folgenden Bildern weitergeführt, was hier nicht weiter kommentiert werden kann.

4. Besseres Design für Online-Zeitungen

Vor allem im Vergleich zu Papierzeitungen stehen Online-Zeitungen erst am unreifen Anfang einer allerdings vielversprechenden Entwicklung. Das gilt auch für ihr äußeres Erscheinungsbild und die Verwendung visueller Elemente. Nicht selten halten optische Labyrinthe im digitalen Journalismus optische Täuschungen oder auch Enttäuschungen bereit. (1) Bilder und Texte sind meistens weniger aufeinander bezogen als in Papierzeitungen. (2) Visuelle Elemente innerhalb der Werbe-Ecken von Online-Zeitungen unterscheiden sich nicht von einfacher Standard-Werbung in anderen Angeboten des WWW. (3) Visuelle Elemente, die der Orientierung (einschließlich Wiedererkennung) innerhalb des jeweiligen Angebotes dienen, bewegen sich in den meisten Fällen auf dem unteren oder mittleren Standard dessen, was von anderen Angeboten innerhalb des WWW bereits eingeführt wurde. (4) Visuelle Elemente zu informierenden Zwecken werden bisher nur spärlich eingesetzt und jedenfalls in erheblich geringerer Menge und Variationsbreite als in Papierzeitungen. (5) Rein oder vorwiegend ästhetisierende Elemente spielen im derzeitigen Spektrum der Online-Zeitungen keine nennenswerte Rolle. Das Niveau von Interface Design, das in anderen Bereichen vor Jahren als avantgardistisch oder auch nur als sehr gut galt (vgl. z.B. Donnelly 1996), wird im Angebot amerikanischer Online-Zeitungen nur in einzelnen Fällen, in deutschsprachigen Online-Zeitungen nirgendwo auch nur annähernd erreicht. Insbesondere gibt es keine vom darzustellenden Inhalt her begründeten medienspezifischen Visualisierungsversuche. Dabei liegt gerade hier die große Chance von Interface Design (vgl. Bonsiepe 1996).

Gutes Interface Design und integrierte Text-Bild-Redaktion sind arbeitsintensiv; Tageszeitungen erscheinen aber in kurzen Rhythmen. So erklärt es sich leicht, daß Online-Zeitungen in der Anfangsphase, in der sie noch stecken, sich hier bisher wenig kreativ gezeigt haben. Wenn sie aber eine wirkliche (und nicht nur punktuelle) Ergänzung und vielleicht sogar Alternative zu Papierzeitungen anbieten wollen, müssen sie im neuen Medium zumindest etwa die Standards erreichen, die in Papierzeitungen seit Jahren und teilweise Jahrzehnten gelten. Dabei können sie sehr gut an jüngste Entwicklungen im Text- und Zeitungsdesign anknüpfen, die gerade schon im Papierbereich in Richtungen weisen, die für digitale Medien charakteristisch sind. Wenn sie sich langfristig außerdem innerhalb des Internet gegenüber dem außerordentlich reichhaltigen übrigen Angebot behaupten wollen, müssen sie darüber hinaus auch die technischen und ästhetischen Möglichkeiten ausnutzen, die auf Papier nicht realisiert werden können. Dazu zählen beispielsweise Audio- und Video-Dateien, hypermediale Dossiers, kognitive Landkarten, clickable images, Java applets, umfangreiche Datenbanken sowie Querverweise (links) zu thematisch verwandten Angeboten im Internet.

So ergeben sich folgende Leitlinien zur Verbesserung von Online-Zeitungen. (1) Der oft noch vorherrschenden Neigung, Texte hauptsächlich im redaktionellen und Bilder hauptsächlich im werbenden Bereich zu verwenden, sollte entgegengewirkt werden. (2) Textliche und visuelle Elemente aller Art sollten besser aufeinander abgestimmt werden. (3) Dabei können gerade visuelle Elemente so eingesetzt werden, daß sie dem Leser helfen, sich in großen, komplexen und heterogenen Informationsmengen zurechtzufinden und Kohärenz zu bilden. Auf diese Weise können unfreiwillig zielloses Zapping vermieden und die freie Orientierung des Lesers sachgerecht unterstützt werden. (4) Für diesen Zweck sollten die jeweils besten Erfahrungen und Stilmittel aus Textdesign für Papierzeitungen sowie screen design für nicht-journalistische Hypermedia-Produkte zusammengeführt werden. (5) Organisatorisch empfiehlt es sich wie bei Papier- auch für Online-Zeitungen, Texte und Bilder aus einer Hand zu redigieren und gemeinsame semiotische Einheiten daraus zu schaffen. Die oben genannten ersten beiden Arten von Text-Bild-Beziehungen sollten also vermieden und die letzten beiden angestrebt werden. In Online-Zeitungen ist das bisher deutlich seltener der Fall als in Papierzeitungen. Auch das zeigt, daß das medienspezifische Potential von Online-Zeitungen bisher auch nicht annähernd ausgeschöpft wird.

Literatur