Kinder sind kreative Sprachdesigner

Zwei verschiedene Arten, Bewegungsabläufe zu beschreiben:

 

 

Art und Richtung können in einer Geste ausgedrückt werden (Bild A)

 

 

 

 

oder mit zwei aufeinanderfolgenden Gebärden (Bild B).

 

Bilder: Max-Planck-Institut für Psycholinguistik/Ann Senghas

 

Analyse einer Gebärdensprache zeigt: Spracherwerb formt die kognitiven Fähigkeiten von Kindern, die wiederum die Entwicklung der Sprache elementar prägen

 

Kinder sind nicht nur erstaunlich effizient darin, bestehende Muster in ihrer Muttersprache zu erkennen, sondern sie entwickeln diese Muster selber aktiv, indem sie elementare Lernmechanismen anwenden. Dies haben Wissenschaftlerinnen vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik, dem Barnard College in New York, USA, und der Universität Bristol, Großbritannien, in einer gemeinsamen Studie zu einer neu entstandenen Gebärdensprache beobachtet (Science, 17. September 2004).

In den letzten 25 Jahren hat eine Gemeinschaft gehörloser Nicaraguaner eine neue Gebärdensprache entwickelt: die Nicaraguan Sign Language (NSL). Aufgrund gesellschaftlicher Strukturen, fehlender Kliniken und Schulen hatten gehörlose Kinder und Erwachsene in Nicaragua bis vor 35 Jahren kaum Kontakt untereinander. Die Situation änderte sich erst 1977, als man in Managua eine Sonderschule einrichtete, in die auch gehörlose Kinder aufgenommen wurden. Die Gehörlosengemeinschaft in der Schule wuchs in den folgenden Jahren stetig und Mitte der achtziger Jahre trafen sich die Schüler auch außerhalb der Schulzeiten regelmäßig. Zu dieser Zeit fingen sie an, eine eigene Gebärdensprache zu entwickeln, die seitdem an neue Generationen gehörloser Schüler weitergegeben wird. Mittlerweile gibt es drei Generationen gehörloser Sprecher der Nicaraguan Sign Language im Alter von 4 bis 45 Jahre.

In frühere Studien dieser Gebärdensprache hat man erste grammatische Änderungen der Sprache bei Sprechern im vorpubertären Alter beobachtet, die von nachfolgenden Generationen übernommen wurden. Dadurch entstand eine ungewöhnliche Sprachgemeinschaft, in der die jüngsten Sprecher die Sprache am flüssigsten sprechen. Die junge Historie der Sprache erlaubte es den Wissenschaftlern, verschiedene Stadien der Sprache miteinander zu vergleichen, da die älteren Sprecher noch eine frühere, weniger entwickelte Form der Sprache sprechen als die jüngeren Mitglieder der Sprachgemeinschaft.

Diese seltene Gelegenheit haben nun Asli Özyürek vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik und ihre Kollegen Ann Senghas vom Barnard College in New York und Kita Sotaro von der Universität Bristol genutzt, um die Entstehung einer Sprache in ihrem natürlichen Umfeld zu beobachten. Über drei Generationen hinweg veränderten sich die anfänglichen Gesten zu einem linguistischen System. Aus einem zunächst ungeordneten entwickelte sich ein geordnetes Sprachsystem, das zwei Eigenschaften aufweist, die grundsätzlich allen Sprachen gemein sind: Erstens besteht jede Sprache aus einer endlichen Anzahl von Elementen, die miteinander verknüpft werden können. Laute werden zu Worten, Worte zu Phrasen und Phrasen zu Sätzen kombiniert. Zweitens gibt es zwischen den einzelnen Elementen hierarchische Beziehungen, d.h. Gesetzmäßigkeiten, die unter anderem regeln, in welcher Reihenfolge diese Elemente angeordnet werden müssen. Diese Eigenschaften erlauben es, mit einem endlichen Repertoire an Elementen eine unendliche Anzahl komplexer Äußerungen zu erzeugen.

Doch können diese Eigenschaften als ein Produkt von kindlichen Lernmechanismen entstehen, auch wenn sie zunächst nicht in den Äußerungen vorkommen, die Kinder von älteren Personen sehen? Um diese Frage zu klären, baten die Wissenschaftler jeweils zehn Angehörige der drei Sprachgenerationen, einen Zeichentrickfilm nachzuerzählen. Die Probanden sollten Bewegungsabläufe wie "den Hügel hinabrollen" oder "die Wand hinaufklettern" beschreiben. Typischerweise enthalten Darstellungen solcher Bewegungsabläufe Information sowohl über die Art der Bewegung (rollen oder klettern) als auch deren Richtung (hinab oder hinauf). Wir nehmen diese komplexen Bewegungen als simultane und ganzheitliche Ereignisse war, d.h. eine "bildhafte" Beschreibung würde beide Eigenschaften gleichzeitig ausdrücken. Eine entsprechende Geste ("hinabrollen") würde beispielsweise eine kreisende Bewegung nach unten machen. Tatsächlich haben frühere Studien gezeigt, dass hörende Personen die Beschreibungen komplexer Bewegungsabläufe häufig mit solchen Gesten begleiten. Viele Sprachen jedoch funktionieren anders als Gesten. Sie zerlegen den ganzheitlichen Ablauf in einzelne separate Elemente und ordnen diese sequenziell an - wie in dem obigen Beispiel "hinab (Richtung)" und "rollen (Art)".

Die Wissenschaftler verglichen nun die Beschreibungen, die sie mit den gehörlosen Probanden der drei Sprachgenerationen aufgenommen hatten, und fanden unterschiedliche sprachliche Strategien. Während die Gebärdensprecher des ersten Jahrgangs vor allem gestische - also ganzheitliche - Darstellungen wählten, bevorzugten die Jüngeren eine sequenzielle Beschreibung. Sie beschrieben die Art und die Richtung der Bewegungen häufiger mit separaten Gebärden. Die jüngeren NSL-Sprecher übernahmen nicht nur das sprachliche System, das ihnen angeboten wurde, sondern entwickelten es weiter.

Dieser Prozess verdeutlicht zwei wesentliche Lernstrategien bei Kindern: Einerseits eine analytische Herangehensweise, die ihnen hilft, zuvor ganzheitliche Sachverhalte in ihre Einzelteile aufzubrechen. Andererseits die Neigung, Elemente linear anzuordnen, auch wenn es möglich wäre, diese Sachverhalte simultan auszudrücken. Auf den ersten Blick ist eine einzige Geste, die sowohl Art als auch Richtung einer Bewegung erfasst, ökonomischer als zwei einzelne Gebärden. Doch erst durch diese lineare und separate Form der Darstellung gewinnt eine Sprache ihre kombinatorische Stärke, die sie dann zu einem so effizienten Kommunikationsmittel macht. Denn beide Teile könnten auch einzeln oder zusammen mit anderen Gebärden verwendet werden.

In ihrer Studie konnten die Wissenschaftlerinnen wesentliche Mechanismen identifizieren, mit denen Kinder Sprachen lernen und weiterentwickeln. Sie gehen davon aus, dass die natürlichen Lernfähigkeiten von Kindern die Struktur einer Sprache elementar prägen. Über die Frage, ob kindliche Lernmechanismen auch die ersten Sprachen geformt haben, oder ob vielmehr Sprachen die Lernmechanismen hervorgebracht haben, kann derzeit nur spekuliert werden. Die Forscher gehen von einer Kombination beider Faktoren aus: Sobald die ersten Sprachen diskrete und hierarchische Strukturen aufwiesen, hatten Kinder mit analytischem und kombinatorischen Lernansatz einen deutlichen Vorteil beim Spracherwerb. Auf diese Art haben evolutionäre Notwendigkeiten kindliche Sprachlernstrategien hervorgebracht und andererseits haben diese einmal erworbenen analytischen und kombinatorischen Fähigkeiten die Struktur nachfolgender Sprachen beeinflusst.

 

Originalveröffentlichung:

A. Senghas, S. Kita, and A. Özyürek

Children Creating Core Properties of Language: Evidence from an Emerging Sign Language in Nicaragua, Science, 17 September 2004

 

Weitere Informationen erhalten Sie von:

Asli Özyürek, Ph.D.
Max-Planck-Institut für Psycholinguistik, Nijmegen/Niederlande

Tel.: +31-(0)24-3521454 (Pressestelle)

Fax: +31-(0)24-3521213

E-Mail: Asli.Ozyurek@mpi.nl


Dr. Kerstin Mauth (Pressebeauftragte)

Max-Planck-Institut für Psycholinguistik, Nijmegen/Niederlande

Tel.: +31-(0)24-3521454

Fax: +31-(0)24-3521213

E-Mail: Kerstin.Mauth@mpi.nl

 

innovations-report, 17.09.2004
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