Schmitz, Ulrich (2001)
Optische Labyrinthe im digitalen Journalismus

INHALT

 

1. Online - mehr oder weniger Zeitung?

2. Textkohärenz und Flächendesign

2.1 Innere Gliederung und äußere Gestalt

2.2 Der Bildschirm als Textschirm

2.3 Orientierung in hypermedialen Zeichenmengen

2.4 Hypermedia-Dokumente als Magazine für Sinnkonstruktion

3. Bilder bei Texten, Texte bei Bildern

3.1 Vier Aufgaben von Bildern in Online-Zeitungen

3.2 Vier Arten von Text-Bild-Beziehungen

4. Besseres Design für Online-Zeitungen

 


 

3. Bilder bei Texten, Texte bei Bildern

 

Bilder wurden immer schon auf andere Weise wahrgenommen als Texte, nämlich - je nach Bildsorte - flächig (z.B. Gemälde), fokussierend (z.B. Plakate), labyrinthisch (z.B. Landkarten) und/oder punktuell (z.B. großformatige Wandbemalungen). Linearität spielt innerhalb eines Bildes keine Rolle, sondern nur in Bildfolgen wie etwa fortlaufenden Bildgeschichten (Comics). Texte in multimedialen Kontexten neigen immer mehr dazu, sich den Rezeptionsgewohnheiten für Bilder anzupassen. In der Werbung insbesondere wandern Texte in Bilder ein und werden mehr oder minder integrierte Bestandteile davon.

 

NB: Zur menschlichen Bild-Wahrnehmung wäre hier anzumerken, daß sie Tür und Tor zu 'Täuschungen' und Manipulationen öffnet. Hier ein paar Beispiele:

http://visor.unibe.ch/~bkersten/Bernd.htm

WAHRNEHMUNG1_GM.JPG & WAHRNEHMUNG2_GM.JPG

STATISTIK.HTM; vgl. aber auch die anderen Materialien zur Statistik im Index

Sogar bei Texten gibt es Interessantes, was unsere Wahrnehmung betrifft:

Z-FAKTOR1.HTM / Z-FAKTOR2.HTM

Buchstaben & Wörter

 

Bildkohärenz wird auf eine ganz andere Weise erreicht als Textkohärenz. Sie kann hier nicht eigens diskutiert werden, weil es dazu (außer ästhetischen und kunstgeschichtlichen Beiträgen) kaum Vorarbeiten gibt. [...]

Deshalb geht es im folgenden um die Frage, ob visuelle Elemente in Online-Zeitungen das grundsätzliche Kohärenz-Problem mildern oder verschärfen. Wenn man bedenkt, daß der verständnisleitende, also kohärenzstiftende Einstieg in Bilder nicht selten durch Texte (Bildtitel, Bildunterschriften, Kommentare) gegeben oder zumindest unterstützt wird [...], liegt es ja nahe, die (Re-)Konstruktion von Kohärenz gerade bei komplexen, heterogenen, labyrinthischen Texten umgekehrt durch visuelle Elemente zu erleichtern. Doch beides kann auch mißlingen: Texte und Bilder können beziehungslos nebeneinander stehen, voneinander ablenken oder einander im Wege stehen.

 

GM - 3.1 Vier Aufgaben von Bildern in Online-Zeitungen

 

Zu visuellen Bestandteilen gehören Bilder, Grafiken und Layout-Elemente. Im einzelnen sind das vor allem Filme, Fotos, Zeichnungen, Infografiken, Icons, Buttons, Typographie, Farbverteilung, Textdesign und Seitengestaltung (screen design). In ihrer Gesamtheit sollen sie

1) Aufmerksamkeit heischen,

2) Lektüre steuern,

3) informieren und

4) unterhalten, auch wenn jede einzelne Sorte diese verschiedenen Aufgaben in unterschiedlicher Mischung, Gewichtung und Ausprägung erfüllt.

In unserem Zusammenhang am interessantesten ist die dritte, nämlich die informierende Rolle von Bildern, weil sie der vorwiegenden Aufgabe von Texten in Online-Zeitungen am nächsten kommt.

Weidenmann (1995:108-111) unterscheidet drei instruktionale Funktionen von Abbildern beim Lesen. Sie können dem Betrachter helfen, eine deutliche und zutreffende bildhafte Vorstellung von etwas zu entwickeln (Zeigefunktion), Detailinformationen in einen Rahmen einzubetten (Situierungsfunktion) oder aber komplexere Realitätsausschnitte durch ein adäquates mentales Modell zu verstehen (Konstruktionsfunktion).

[...] In Online-Zeitungen erscheinen Abbilder in der Regel bisher fast nur in der Zeigefunktion. Oft dienen sie, wie das auch in gedruckten Zeitungen vorkommt, lediglich als plakativer Einstiegspunkt neben Texten, ohne daß der Text näher auf den Bildinhalt einginge (wie in Abb. 2). Nicht selten öffnen sich dabei Text-Bild-Scheren, wie Wember (1976) sie fürs Fernsehen beklagt hat, so etwa in der folgenden Abb. 3.

 

GM - 3.2 Vier Arten von Text-Bild-Beziehungen

 

Man kann vier Arten von Text-Bild-Beziehungen unterscheiden. Sie werden hier in der Reihenfolge zunehmender Qualität aufgeführt und dementsprechend mit wachsender Ausführlichkeit exemplarisch besprochen.

1)   Diskrepanz: Text und Bild lenken voneinander ab (in der Regel das Bild vom Text)*.

2)   Neutralität: Text und Bild stehen gleichgültig nebeneinander.

3)   Ergänzung: Der Text ergänzt das Bild (oder das Bild den Text) durch zusätzliche Informationen, die in dem anderen Medium nicht ausgedrückt werden (insbesondere nicht werden können).

4)   Wechselseitige Erhellung: Text und Bild erläutern einander.

Beispiele für die erste Gruppe (Diskrepanz zwischen Text und Bild) stehen oben in Abb. 3 [...]

* Hier sei an das erinnert, was die Medienanalytiker "Text-Bild-Schere" (Englisch: divergence of words and image) nennen

 

Die meisten Fotos in Online-Zeitungen gehören in das Übergangsfeld zwischen der zweiten und dritten Gruppe, wenn nämlich Text und Bild durchaus getrennt voneinander vorkommen könnten, das Bild eher zur optischen Auflockerung dient, aber doch Informationen enthält, die im Text nicht so wichtig sind oder auch nicht schriftlich dargestellt werden können.

Wegen des nicht geringen redaktionellen Aufwandes kommen reine Fälle aus der dritten Gruppe (Ergänzung von Text und Bild) in Online-Zeitungen noch nicht oft vor, obwohl deren technische Grundlage sie zu einem ausgezeichneten Medium genau dafür macht.

 

Abgesehen von der in stets wechselnden Bildern eingeblendeten Werbung sind Layout, Texte, Bilder, Grafiken und Multimedia-Design hier zu einer ästhetisch einheitlichen Dokumentation durchkomponiert. Die jeweils aus der Sache begründete Verknüpfung vieler hypermedialer Techniken erlaubt dabei eine inhaltlich anspruchsvolle, ergonomisch ansprechende und individuell anzusteuernde Präsentation, wie sie weder in Printmedien noch im Fernsehen möglich wäre.

 

Die vierte und letzte Gruppe (wechselseitige Erhellung von Text und Bild) ist die semiotisch ergiebigste und für den Nutzer hilfreichste. Sie erfordert freilich intensive Redaktion, ist nicht bei allen Themen sinnvoll oder möglich und kommt in Online-Zeitungen sehr selten vor, seltener als in einfachen Papierzeitungen (im Gegensatz zu Illustrierten). Hier folgt ein Beispiel, bei dem überlegene technische Möglichkeiten zu intensiverer Aufbereitung im Online-Medium geführt haben.

 

Online-Bilder bedürfen zwar längerer Zugriffszeit als Zeitungsbilder, wirken optisch aber brillianter und suggestiver. [...] Außerdem können in Papierzeitungen nur sehr wenige Fotos (selten mehr als eines zu einem Thema) wiedergegeben werden, online grundsätzlich aber unendlich viele.

[...]

 

Deutscher und englischer Text unterscheiden sich wie Weinrichs (1985) "besprochene und erzählte Welt". Im englischen Erzähltext kommen erwartungsgemäß nur Verben im Präteritum (past tense) vor. Daß der deutsche Text weniger Perfektformen enthält als nach Weinrich zu erwarten wären, liegt erstens an einer gewissen (im Laufe der verschiedenen Auflagen seines Buches zunehmend zurückgenommenen) Überzeichnung bei Weinrich, zweitens an der Sonderstellung des Verbs "sein" (das aus sprachökonomischen Gründen oft im Präteritum vorkommt, wo andere Verben im Perfekt stünden) und drittens am Nachrichtenstil, der mit bevorzugter Präteritumswahl eine größere Objektivität und Distanz gegenüber gesprochener Sprache suggeriert, als sie bei Perfektformen empfunden werden.

 

Insgesamt stellt die Papierzeitung eine Illustration neben den autonomen Nachrichtentext, während im Foto-Essay der Online-Zeitung der erzählerische Text dazu dient, aus den Bildern eine erlebbare Geschichte zu machen.

 


Zur 'Exemplifizierung' der Relation TEXT-BILD seien hier Beispiele aus europäischen Online-Medien angeführt, und zwar eine kleine Auswahl zum Erdbeben in Indonesien und eine zu den Ergebnissen der PISA-Studie